Inflationsbekämpfung auf Kosten der Vielen
Von Luise Wimmler und Mario Matzer

Schon John Maynard Keynes wusste: „Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen.“ Besonders auffällig ist dieser Umstand in Bezug auf den weitverbreiteten Mythos, dass die Geldmenge der relevante Faktor für die Entwicklung des Preisniveaus sei. Dieser Mythos hat direkte Auswirkungen auf Gestaltung und gesellschaftliche Akzeptanz von Inflationsbekämpfung und dazugehöriger Geldpolitik und führt zu Politik im Interesse der Vermögenden. Ein besseres Verständnis des postkeynesianischen Konzeptes der Konfliktinflation ermöglicht stattdessen politische Maßnahmen im Interesse der Vielen.

Im dominanten, neoklassischen Weltbild der Mainstream-Ökonomie ist Inflation immer die Folge einer zu hohen realwirtschaftlichen Nachfrage. Für die Funktionsweise dieses Zusammenhanges gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Der einfachste und gleichzeitig hegemonial dominante Ansatz, der Monetarismus, beruht auf der sogenannten Quantitätstheorie des Geldes. Diese Theorie besagt, die zu hohe Nachfrage sei eine Folge des zu schnellen Wachstums der Geldmenge, was automatisch zu einem Anstieg des Preisniveaus führe. Als Resultat dieses rein monetären Prozesses bleiben die realen Zusammenhänge unverändert, nur Preisniveau und Geldmenge erhöhen sich in gleichem Ausmaß. Laut dieser Perspektive tragen vor allem die zur Bekämpfung der letzten großen Krisen aufgelegten Programme der großen Zentralbanken die Schuld an der Geldmengenausweitung und somit an der aktuellen Inflation.
Die neueren Wicksellianischen Erklärungsansätze (siehe Lavoie, M. 2014, Kapitel 8) berufen sich in verschiedenster Weise auf das Konzept der Phillipskurve, welche in der bekannten Auslegung von sich behauptet, einen stabilen bzw. „natürlichen“ Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit darzustellen. Erklärt wird dieser mit einem zu niedrigen Zinssatz: Liegt der aktuelle Marktzinssatz unter dem „natürlichen“, führt dies zu einer zu geringen Sparquote und dadurch zu einem Anstieg der Geldmenge und zu einer zu hohen Nachfrage, welche wiederum zu Preissteigerungen führt. Aus Perspektive der Vertreter:innen der Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment (NAIRU) wiederum führt zu geringe Arbeitslosigkeit zu einem untragbaren Anstieg der Nachfrage und infolgedessen zu Inflation.

Es ist also im ökonomischen Mainstream stets die „zu hohe“ Nachfrage, die Inflation verursacht. Der Geldpolitik obliegt es daher, durch Zinserhöhungen die realwirtschaftliche Nachfrage und damit Inflation zu reduzieren: Durch Zinserhöhungen steigen die Kosten für den Schuldendienst und geplante Investitionen von Unternehmen werden unrentabel und daher aufgeschoben. Dies senkt die realwirtschaftliche Nachfrage, reduziert die gesamtwirtschaftliche Produktion und erhöht die Arbeitslosigkeit. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Arbeitslosigkeit die Verhandlungsmacht von Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften verringert, was die Nachfrage in einem Zweitrundeneffekt reduziert.

Kritik an den neoklassischen Mythen
Wie so oft halten diese neoklassischen Erklärungsansätze einem Abgleich mit der Realität nicht stand. Tatsächlich haben Zentralbanken einen verschwindend geringen Einfluss auf die Geldmenge, wie die Bank of England prominent darlegt: In jedem Moment, in dem eine Akteurin einen Kredit bei einer Privatbank aufnimmt, entsteht eine Verbindlichkeit und (neues) Geld. Meist geschieht dies komplett ohne Einbezug der Zentralbanken. Wird die Zentralbank doch einmal - zur Liquiditätsbeschaffung - gebraucht, bleibt dieser gar nichts anderes übrig, als die ihr zugedachte Stabilisierungsfunktion zu übernehmen, um eine Vertrauenskrise abzuwenden. Zentralbanken verfügen damit de facto über keinen Handlungsspielraum in Bezug auf die Geldmenge.

Davon abgesehen ist die überproportionale Zunahme der realwirtschaftlichen Nachfrage, welche sämtlichen neoklassischen Inflationstheorien zugrunde liegt, in der Realität nicht zu beobachten. Weder bewegten sich europäische Arbeitslosenquoten nahe der Vollbeschäftigung, noch waren annähernd vollständige Kapazitätsauslastung oder extraordinär hohe Wachstumsraten zu beobachten. Das verhältnismäßig hohe Wirtschaftswachstum im Jahr 2021 hat den coronabedingten Einbruch des Jahres 2020 nicht aufgeholt. Zudem haben weitaus höhere Wachstumsraten in den letzten 20 Jahren nie zu einem vergleichbaren Inflationsschock geführt.

Woher Inflation tatsächlich kommt
Wenn nun weder die Geldmenge, noch steigende Nachfrage für Inflation verantwortlich sind, woher kommt die aktuelle Inflation? In der Realität ist Inflation nichts Anderes als ein auf der Preisebene ausgetragener Konflikt um die Einkommensverteilung. Folgendes Beispiel veranschaulicht diese Dynamik: gewinnt eine Akteurin – z.B. durch Fusions- und Akquisitionspraktiken – an Marktmacht, kann diese genutzt werden, um Preise und damit Profitmargen zu erhöhen. Im Ausmaß dieser Erhöhung verlieren die Realeinkommen der anderen Akteure bzw. Akteurinnen der Volkswirtschaft an Wert. Geschieht dies in großem Maßstab, d.h. in statistisch messbarem Ausmaß, spricht man von Inflation. Neben dieser Variante postkeynesianischer Konfliktinflation können auch andere Spielarten dieses preistreibenden Verteilungskonfliktes – beispielsweise geopolitische Auseinandersetzungen wie der Erdölschock in den 1970ern – zu Inflation führen.
Die aktuelle Inflationsdynamik in der Eurozone wurde ausgelöst durch eine Kombination aus Lieferkettenproblemen infolge der Coronakrise sowie durch die Einschränkungen der russischen Exporte von fossilen Energieträgern im Laufe des Jahres 2021. Gazprom hatte bereits im Sommer 2021 seine Gasexporte nach Europa massiv eingeschränkt, keine kurzfristigen Gasmengen für den Spotmarkt mehr geliefert und seine langfristigen Lieferverträge aus Speichern in Europa, allen voran Haidach in Österreich, bedient – Ausdruck eines (geopolitischen) Machtkampfes um Einkommen auf Ebene der Rohstoffpreise zwischen Russland und den europäischen Industrieländern. Verschärft wird diese Situation durch den derzeitigen Preissetzungsmechanismus auf den europäischen Strommärkten. Demnach werden sämtliche Stromformen zu einem uniformen (Grenzkosten)Preis gehandelt, der vom teuersten Produkt am Markt - im aktuellen Fall Strom aus Gaskraftwerken - festgelegt wird.

Diese importierte Inflation wurde sofort durch eine spekulationsgetriebene Inflation verstärkt. Durch die neoliberal geprägte Politik der letzten Jahrzehnte nahm die Vermögens- und Einkommenskonzentration an der Spitze rasant zu. Die sich daraus zwangsläufig ergebende steigende Sparquote führt dazu, dass immer mehr Kapital auf den Finanzmärkten veranlagt wird, was zu Überliquidität und Blasenbildung führt. Speziell die von den EU-Staaten 2022 vorgeschriebenen Mindestfüllstände für Gasspeicher haben zudem die Spekulation auf Gaspreise befeuert und Zusatzprofite für Spekulant:innen ermöglicht, welche sich für die Masse in Form noch höherer Inflation bemerkbar machten.
Die infolge der wiederentfachten Inflation steigende Inflationserwartung erlaubt es nun zunehmend den großen Unternehmen, das in den vergangenen Jahren durch Fusionen und Akquisitionen ausgeweitete Marktmachtpotenzial im Windschatten der allgemeinen Inflation durch Preisanhebungen in zusätzliche Profite umzumünzen. Diese profitgetriebene Inflationsform senkt den Anteil der Löhne am Bruttonationaleinkommen und ist direkter Ausdruck des Verteilungskonflikts um Einkommen. In weiterer Folge ist in jenen Branchen der europäischen Wirtschaft, in denen Gewerkschaften noch über ausreichend Organisationmacht verfügen, um die Reallöhne stabil zu halten, von Zweitrundeneffekten auszugehen - auch bekannt und zu Unrecht verrufen als Lohn-Preis-Spirale.

Inflationsbekämpfung ist problematischer als die Inflation selbst
Nun trifft also ein geldpolitischer Inflationsdämpfungsapparat namens Geldpolitik, der darauf ausgelegt ist, nachfragegetriebene Inflation zu bekämpfen, auf eine Inflation, die nicht auf eine zu hohe Nachfrage zurückzuführen ist. Das Resultat inflationsdämpfender Maßnahmen wie der drastischen Erhöhung der Leitzinsen ist neben einem Rückgang der effektiven Nachfrage und einer damit einhergehenden Zunahme der Arbeitslosigkeit die Schwächung der Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Damit zeichnet sich ab, dass die unselbstständig Beschäftigten, die lohnabhängigen Arbeiter:innen als Verlierer:innen aus diesem Machtkampf hervorgehen werden. Die zusätzlichen Gewinne der Spekulant:innen und großen Unternehmen gehen auf Kosten des Reallohnniveaus. All dies wird uns als Neuauflage des altbekannten TINA (There Is No Alternative) präsentiert: die zunehmende Verarmung der Vielen sei alternativlos und unausweichlich.

Aus postkeynesianischer Perspektive ist dieser reichenfreundliche Zugang zur Geldpolitik abzulehnen. Da Inflation nicht auf eine zu hohe Nachfrage zurückzuführen ist, sind nachfragedämpfende Maßnahmen nicht nur zwecklos, sondern aus Perspektive der Vielen sogar kontraproduktiv. Denn wenn man berücksichtigt, dass Inflation nicht nur Lohneinkommen und staatliche Transfers entwertet, sondern ebenso Schulden und Finanzvermögen, wird klar, dass sie begrüßenswerte Auswirkungen auf die Vermögensverteilung haben kann. Nachdem der Großteil der europäischen Bevölkerung kein nennenswertes Finanzvermögen besitzt, wohl aber signifikante Beträge an privaten und staatlichen Schuldtiteln, profitieren große Bevölkerungsschichten von der Abwertung letzterer.

Das Problem der Vielen ist nicht Inflation an sich, sondern die sinkenden Realeinkommen, die sie verursacht. Eine Wirtschaftspolitik, die auf ökonomische Stabilität im Interesse der Vielen abzielt, muss daher darauf ausgerichtet sein, die Realeinkommen der Lohnabhängigen zu stabilisieren. Dies wird erreicht, indem einerseits staatliche Transfers indexiert und andererseits gewerkschaftliche Strukturen gestärkt werden, um die Inflation vollständig in den Lohnverhandlungen zu kompensieren. Stabile, höhere Inflationsraten sind damit nicht nur unbedenklich für die Masse der arbeitenden Bevölkerung, sondern sogar von Vorteil, da sie die reale Schuldenlast reduzieren. Damit einher geht aufgrund der Entwertung der Staatsschulden eine dringend benötigte Ausweitung des finanziellen Spielraums für EU-Mitgliedsstaaten, um adäquat auf systemische Krisen wie die Klimakatastrophe reagieren zu können.

Die Verlierer eines solchen Verteilungskonfliktes wären die Rentiers, die Erben, die Vermögenden, da ihre Finanzvermögen real an Wert verlieren. Der Schluss liegt nahe, dass man damit auch dem Rätsel auf den Grund kommt, weshalb die großen Zentralbanken dieser Welt auf Basis von lange widerlegten, reichenfreundlichen Geldmengentheorien unter dem breiten Zuspruch der Bevölkerung Politik zugunsten der Vermögenden auf Kosten der Vielen verfolgen. Denn: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.“

Dieser Artikel wurde auch auf Makronom.de veröffentlicht.